Eckart Spoo
Kinder in Belgrad aus OSSIETZKY Nr. 5/2001
Nebojsa Jovanovic möchte Physiklehrer werden - hoffentlich unter besseren Bedingungen als heute: Weil die Lehrer nur umgerechnet 100 Mark im Monat verdienen, und das bei steil steigenden Preisen, sind in diesen Tagen viele serbische Schulen wegen Streiks geschlossen.
Vladimir Jontic hat den Berufswunsch: Automobil-Designer. Aber zur Zeit werden in Jugoslawien keine Autos gebaut. Nachdem das große Zastava-Werk in Kragujevac von NATO-Bomben zerstört worden war, gelang es den Arbeitern zwar inzwischen, nach sorgfältigem Sortieren der Trümmer eine Produktionslinie provisorisch zusammenzubasteln, aber unter dem neuen, von der Regierung Djindjic eingesetzten Management ist die Produktion gestoppt; die Hauptfrage lautet jetzt: Welcher ausländische Investor wird sich Zastava aneignen - mit welcher Perspektive? So ähnlich wie sich bei der Wende in Ostdeutschland der BASF-Konzern die Kaligrube Bischofferode im thüringischen Eichsfeld nur angeeignet hat, um sie zu schließen?
Marija Joksimovic, die kürzlich in die Berufsschule gekommen ist, hat sich für den Einzelhandel entschieden, aus Freude am Umgang mit vielen Menschen. Momentan sind die Aussichten in diesem Beruf besonders düster: Die Ladenbesitzer beschäftigen zum großen Teil Schwarzarbeiter; so verringern sie ihre Lohnkosten, vermeiden Lohnnebenkosten, Kündigungsschutz und andere soziale Verpflichtungen. Die rund 800.000 Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien und Kosovo sind ein unerschöpfliches Schwarzarbeiter-Potential. Rudolf Scharping, Joseph Fischer, Gerhard Schröder, die sich gelegentlich zu raschem militärischen Eingreifen bereit zeigen, "weil wir nicht wegsehen dürfen", sehen beharrlich über dieses bleibende Flüchtlingselend hinweg, das durch die deutsche Politik der Zerstückelung Jugoslawiens eingeleitet wurde.
Anfang März 2001 - fast zwei Jahre sind seit dem Beginn der "humanitären Aktion" vergangen, wie Schröder/Fischer/Scharping den Bombenkrieg gegen Jugoslawien nannten - sitze ich im Belgrader Gewerkschaftshaus mit Marija, Vladimir und Nebojsa zusammen. Marija hat auch eine ihrer beiden Schwestern mitgebracht, die siebenjährige Milica. Für die dreijährige Marija Stukalo ist ihre Mutter gekommen, Gordana, die mir ernst, still und aufmerksam gegenübersitzt. Gordanas Mann und die Väter der anderen Kinder wurden in der Nacht vom 23. zum 24. April 1999 um 2.06 Uhr von einer NATO-Rakete zerfetzt, die gezielt in die Zentrale des jugoslawischen Fernsehens einschlug. Zwei der 16 Toten konnten nicht mehr identifiziert werden. Der Explosionsdruck schleuderte Leichenteile bis zu 100 Meter weit auf die Dächer der kleinen russisch-orthodoxen und der großen serbisch-orthodoxen Sv. Marko-Kirche.
Eine Friedensgruppe in Kassel entschloß sich vor einem Jahr, jedes dieser Kinder mit monatlich 100 Mark, einem im heutigen Serbien beträchtlichen Betrag, zu unterstützen; seitdem treffen sich die Kinder jeden Monat, um das Geld in Empfang zu nehmen. Die Kasseler, die von meiner Reise nach Belgrad erfuhren, baten mich, die neue Rate zu überbringen. Ich darf, ich soll nun einige Worte sagen. Es fällt mir schwer. Ich fürchte, Gordana und auch Aleksandar Jankovics Mutter, die mit ihrem vaterlos aufwachsenden 14jährigen handball- und computerbegeisterten Jungen gekommen ist, könnten jedes Wort, das der Mann aus Deutschland sagt, als billig und anmaßend empfinden.
Dreimal innerhalb eines Jahrhunderts hat deutsches Militär Serbien angegriffen. Ich wünschte, daß endlich die Serben das Wort hätten, sie, die wie kaum ein anderes Volk unter deutschem Herrenmenschenwahn zu leiden hatten. Aber nun führt Bodo Hombach auf dem Balkan das große Wort. Und die Serben haben schweigend zu büßen - wofür? Die Serben? Nein, nicht alle. Aber diese.
Der Vorsitzende der Einzelhandelsgewerkschaft, Sveta Vladisavljevic, und sein Kollege von der serbischen IG Medien, Rajko Simic, erleichtern mir die Aufgabe, indem sie berichten, daß ich nicht zum ersten Mal in Belgrad bin, sondern während des NATO-Krieges in einer Gruppe von zehn deutschen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unter dem Motto "Dialog von unten statt Bomben von oben" Luftangriffe auf Belgrad und andere jugoslawische Städte miterlebt habe. Damals haben wir auch vor den Ruinen des Fernsehgebäudes gestanden und Blumen niedergelegt. Und wir haben in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt des klein gewordenen Jugoslawien, den Schutthaufen gesehen, der vom dortigen Fernsehsender übriggeblieben war. Systematisch hatte die westliche Wertegemeinschaft gleich in den ersten Kriegswochen Radio- und vor allem Fernsehanlagen zerstört. Dennoch gelang es der NATO bis Kriegsende nie, den Sendebetrieb länger als zwei Stunden zu unterbrechen; dafür sorgten zeitweilig mobile Sender. Und immer bot RTS, die serbische Rundfunkanstalt, auch der europäischen Satellitenzentrale in London aktuelle Bilder an, deren Weiterverbreitung jedoch auf deutsche Veranlassung unterbunden wurde, denn die Völker der kriegführenden Staaten sollten nicht erfahren, was die NATO in Jugoslawien anrichtete. Sie haben bis heute - trotz der ARD-Sendung "Es begann mit einer Lüge", die immerhin endlich einige Wahrheiten enthielt - fast nichts darüber erfahren. Den Grund nannte NATO-Chefpropagandist Jamie Shea in der Sendung selbst: Es ging um die Macht über die Bilder. Wir sollten desinformiert werden. Deswegen wurden die Väter dieser Kinder mit militärischer Grausamkeit ermordet.
Jetzt sitzt der damalige RTS-Fernsehdirektor Dragoljub Milanovic in Untersuchungshaft. Die NATO und die Chefanklägerin des von den Siegerstaaten finanzierten Haager Tribunals behaupten, Milanovic sei vor dem Angriff gewarnt gewesen - er also sei schuld am Tode der 16 RTS-Beschäftigten. Siegerjustiz. Der Sieg ist erst vollständig, wenn die Täter über die Opfer zu Gericht sitzen, sie schuldig sprechen und bestrafen. Hauptstrafe: lebenslanges Schweigegebot. Sie gilt schon seit drei Jahren für Slobodan Milosevic. Ich kann mich nicht erinnern, daß er seit dem von ihm mit unterzeichneten und strikt respektierten Dayton-Abkommen jemals in einem hiesigen Sender zu Wort gekommen wäre. Sonst wäre es schwerlich gelungen, ihn zum totalen Feind zu stilisieren. Kriegerisches Töten beginnt damit, daß der Aggressor die Opfer mundtot macht.
Borivoje Urosevic, gewerkschaftlicher Vertrauensmann der RTS-Beschäftigten, hatte an jenem 23. April Tagesschicht, sonst wäre vielleicht auch er unter den Toten. Er sagt mir: "Ja, wir waren schon insofern gewarnt, als NATO-Generalsekretär Solana gleich zu Beginn des Krieges das Fernsehen zur Propagandaeinrichtung und damit zum militärischen Ziel erklärt hatte. Aber hätten wir etwa den Aggressoren den Gefallen tun sollen, unsererseits den Sendebetrieb einzustellen? Uns fiel auf, daß die Vertreter von CNN und anderen ausländischen Sendern ihre Büros in unserem Fernsehgebäude jedesmal eine Stunde vor einem Bombenalarm räumten und eine Stunde nach dem Alarm zurückkehrten. Sie müssen also wirklich gewarnt gewesen sein. Aber hätten wir denn jedesmal mitgehen und die Zuschauer im Stich lassen sollen? NATO-Sprecher Shea sagte in Brüssel am Tag vor dem Angriff, es sei nicht beabsichtigt, unser Fernsehen anzugreifen. Insofern konnten wir uns sicherer wähnen als zuvor. Allenfalls hätte uns einfallen können, daß dieser Mann immer gelogen hat und daß deswegen auch diese Entwarnung eine Lüge sein mußte. So klug war leider keiner von uns. Sonst wäre wohl die Mutter unseres damaligen Informationsministers, Angelina Vucic, die seit langem beim Fernsehen arbeitete, nicht im Gebäude gewesen."
Eine Wohltat für die Sieger ist es, wenn sich Serben finden, die ihnen das Blut von den Händen waschen. Auch unter den Angehörigen der Toten sind zwei, die nun Milanovic beschuldigen statt der siegreichen NATO. Und am 5. Oktober vergangenen Jahres wurde unter dem Jubel der tonangebenden Medien in den NATO-Ländern nicht nur an der Stupcina, dem Sitz des gewählten Parlaments, sondern auch an der Fernsehzentrale Feuer gelegt, das, wenn es nicht schnell gelöscht worden wäre, mit dem Gebäude auch die Spuren des Raketenangriffs hätte verbrennen können. "Aber größeren Schaden als der Brand", berichtet mir Dusan Markovic von Radio Belgrad, "haben die Plünderer angerichtet."
Die NATO hat auf dem Balkan fast alles erreicht, was sie erreichen wollte. Bis Anfang 1999 hatte sie dort nur ein einziges Mitgliedsland: das nach den Erfahrungen des per NATO-Putschplan "Prometheus" installierte Militärregime 1967-1974 nicht gerade bündnisfromme Griechenland (über dessen Widerstandshaltung zum Krieg gegen Jugoslawien die deutsche Öffentlichkeit fast nichts erfuhr). Mit dem Krieg gewann die NATO die Hoheit über den ganzen Balkan - zunächst noch mit Ausnahme Serbiens, das aber, nachdem ihm die materielle Existenzgrundlage weggebombt war und das Embargo die Not von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag vergrößert hatte, mürbe werden mußte. Was der NATO zu ihrer Zufriedenheit noch fehlt, ist nur noch eins: Jugoslawien soll ihr seinen früheren Präsidenten zur Bestrafung ausliefern.
Auf dem Konvent des Serbischen Gewerkschaftsbundes spricht man über all das nicht mehr. Nur über die wachsende Armut, die Arbeitslosigkeit, die Inflation. Der Vorstand stimmt die 1500 Delegierten auf die Privatisierungen ein, die als unvermeidlich gelten. Nach dem Sieg der NATO - das ist allen bewußt - werden Kapitalinteressen entscheiden - über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes entscheiden. Werden die Gewerkschaften dabei ein wenig mitreden können? Bedingungen werden formuliert: Die Regierung soll ein Sozialprogramm beschließen, ein Teil des zu privatisierenden Kapitals soll den Beschäftigten zugeeignet werden, sie wollen nicht restlos enteignet werden. Jugoslawien soll nicht auf das Niveau eines unterentwickelten Landes zurücksinken.
Ich werde nach Erfahrungen bei der Privatisierung in Ostdeutschland gefragt. Ich wünschte, Experten des DGB und seiner Einzelgewerkschaften wären hier. Aber sie boykottieren seit Jahren den Serbischen Gewerkschaftsbund wie auch den jugoslawischen Dachverband. Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte hat auf etliche Briefe nicht einmal geantwortet. Ob er es wagen würde, den Kindern und Witwen der ermordeten Fernsehmitarbeiter unter die Augen zu treten? Schon am Tage vor den ersten Bombenangriffen hatte er seine Zustimmung zum Krieg erklärt.
Eckart Spoo ist Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift OSSIETZKY. Er gehörte zu der Gruppe engagierter Gewerkschafter, die während des NATO-Kriegs solidarische Hilfe für Belegschaften zerstörter Betriebe in Jugoslawien organisierte - eine Initiative, die auch heute noch existiert.
Bei der Kasseler Gruppe handelt es sich um das Kasseler Friedensforum, das seit Monaten versucht, über Spenden Einzelner und Geldsammlungen bei Veranstaltungen die "Stipendien" für die betroffenen Waisenkinder zusammen zu bringen.